D.a. Nr. 559 – Ausgabe Februar 2023
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Sebastian Dalkowski
Für seine wichtigste Aufgabe des Tages braucht Heinz-Werner Wellner lediglich einen Kugelschreiber und ein leeres Blatt. Mit Rauschebart, Resthaarkranz und aufgekrempelten Baumwollhemdsärmeln sieht der 70-Jährige nicht nur aus wie ein pensionierter Politiklehrer, er ist auch einer. Für die Leute im Dorf ist er bloß “Heini”. Wellner sieht hinüber zu den Menschen, die sich im großen Saal der Gaststätte gemächlich um mehrere aneinandergereihten Tische bewegen, ein gefaltetes Blatt Papier von einem Stapel nehmen, einen Schritt nach links gehen und in das gefaltete Blatt Papier vom nächsten Stapel schieben. Bis sie 64 Seiten zusammen haben. Schaut man nur auf ihre Füße, sieht das aus wie bei einem Tanzkurs für Anfänger. Den einen Fuß nach links, den anderen ranziehen. Wellner notiert jeden einzelnen Namen. In einem Monat werden sie wie die aller anderen 80 Beteiligten in der übernächsten Ausgabe von “Dedinghausen aktuell” stehen, der Zeitung, die sie an diesem letzten Freitagabend im Oktober zusammenbauen.
Überall in Deutschland kämpfen Lokalzeitungen ums Überleben, werden zusammengelegt oder geben auf. In Zeiten, in denen die Zahl der Anzeigen und Abonnenten existenzgefährdend zurückgeht, sucht die Branche nach einem neuen Geschäftsmodell. Bloß im ostwestfälischen 1800-Einwohner-Dorf Dedinghausen, das zu Lippstadt gehört, kann sich die Redaktion mit der Zukunft etwas Zeit lassen. Funktioniert schließlich alles noch.
Seit 50 Jahren erscheint hier einmal im Monat “Dedinghausen aktuell”. Ein Journalismusprofessor hat ihnen mal bescheinigt, die älteste Dorfzeitung Deutschlands zu sein. Auflage 800 Exemplare, Haushaltsabdeckung 100 Prozent. Das auch noch in Zeiten, in denen es in Dörfern immer weniger Geschäfte und sonstige Infrastruktur gibt. Wie haben sie so lange durchgehalten? Wie stellen sie das jeden Monat an? Und kann der Besucher hier neben einem funktionierenden Geschäftsmodell noch ein funktionierendes Dorfmodell kennenlernen?
Wer darauf Antworten möchte, muss eine Redaktionskonferenz besuchen. Eigentlich kommen Redaktionen morgens in tristen Konferenzräumen zusammen. Die Leute von “Dedinghausen aktuell” treffen sich an einem Mittwochabend im Oktober in der Traditionsgaststätte “An der Bahn” zur monatlichen Konferenz. Als würden sie nicht die Novemberausgabe besprechen, sondern das Schützenfest planen. Dunkles Holz, gepolsterte Sitzflächen. Eine Schachtel Pralinen wird rumgereicht. Der Kellner bringt Bier in nicht zu kleinen Gläsern. Sie sind zu zehnt, der jüngste 13, der älteste 72, mit Jannik, der in München Chemie studiert und über einen Laptop dazugeholt wird. Die meisten gehen tagsüber einem Broterwerb nach, als Informatiker, Zollbeamter oder Ingenieurin. Für die Dorfzeitung arbeiten sie ehrenamtlich. “Eine Art Bürgerinitiative”, nennt es Wellner. Die Leute schreiben nicht für Geld, sondern fürs Dorf.
Wellner sitzt am Kopfende und leitet die Sitzung. Einen Chefredakteur gibt es nicht, aber jeder weiß, wer den Laden zusammenhält. Wellner hat studiert, doch er sagt Sachen wie “Das ist doch wurscht” oder “Pillepalle”. Die Tagesordnung umfasst zwei Seiten. Schon in der folgenden Woche soll die 556. Ausgabe gedruckt werden. Wellner fragt, ob jemand am Sonntag zur Kräuterwanderung war. Nein. Geht jemand zur Graffiti-Aktion? Wohin mit den sechs eingesandten Fotos vom Regenbogen, der kürzlich über dem Dorf stand? Nicht nur die Redakteure füllen die Ausgaben. Schützen schreiben über Schützen. Eine Mutter übers Kindergartenfest. Wer etwas schickt, der wird auch veröffentlicht. Ungekürzt. Jeder macht nur, was er machen will. Aber zur Bürgeranhörung müssen sie, sagt Wellner, da geht es um den Bebauungsplan des alten Sportplatzes. “Das ist natürlich ne größere Nummer.” Außerdem steht das jährliche Putenskat-Turnier an, eine Veranstaltung, die die Dorfzeitung selbst ins Leben gerufen hat. “Kriegen wir die Puten wieder von Hermann?”, will einer wissen. Nein, der hat alle Puten keulen müssen.
Zwischendurch muss dringend geklärt werden, ob es beim 50. Jubiläum vom Frisörsalon Lerche Würstchen gibt. Wellner, nicht unbedingt gertenschlank, ist ganz sicher. Eine Redakteurin sieht in der Ankündigung in der vergangenen Ausgabe nach. “Hier steht nix von Würstchen.” Bloß von Häppchen. “Häppchen sind für mich Würstchen”, sagt Wellner.
Bevor nach knapp zwei Stunden Schnitzel, Bratkartoffeln und Currywurst auf dem Tisch landen, soll der Bundespräsident zu Wort kommen. Weil ihre Dorfzeitung in diesem Jahr 50. Geburtstag feiert, hat die Redaktion auch an das deutsche Staatsoberhaupt geschrieben. Die Antwort eines Mitarbeiters wird nun verlesen. “Der Bundespräsident schätzt es sehr, wenn sich Menschen ehrenamtlich engagieren und sich für das Zusammenleben in der Gesellschaft einsetzen”, heißt es da unter anderem. Gleichwohl sei es ihm leider nicht möglich, die Publikation mit einem Grußwort zu unterstützen. “Och, ist aber schon nett”, sagt Redakteurin Britta Kückelmann-Hoffmann und hat ihren Satz kaum beendet, da fährt der sonst eher friedliche Willi Schulte dazwischen. “Für den ganzen Rotz, den die da geschrieben hat, kann die doch eben eine Kopie von irgendeinem vorgefertigten … Mannmannmann.” Er hätte auf mehr gehofft. Wer sonst kann schon behaupten, seit fünf Jahrzehnten in seiner Freizeit eine Zeitung am Leben zu halten?
Gedruckt wird seit einigen Jahren im Partykeller von Gründungsmitglied Willi Schulte. Auch nach seinem Tod soll es so weitergehen – dieses Versprechen konnte der 72-Jährige seiner Frau abringen Der Konservative Schulte, 72, ist neben Sozi Wellner das einzige verbliebene Gründungsmitglied. Es gab 1972 keinen großen Plan. Wellner, Schulte und andere damals junge Dorfbewohner brachten für ihren Jugendring zunächst bloß einen Info-Zettel heraus, um ihre Veranstaltungen anzukündigen. Bald wollten auch die Vereine dort auftauchen. In der ersten Ausgabe der Zeitung, elf mit der Schreibmaschine getippte Seiten, schrieb der Bürgermeister: “Der Zusammenhalt unserer Dorfgemeinschaft erfährt hier eine weitere Bereicherung.” Ein Leserbriefschreiber mäkelte, in der Jugend-Disko “scheint sich eingebürgert zu haben, daß eine lange Anlaufzeit benötigt wird, ehe Stimmung aufkommt.”
Gedruckt wurde in einer Brauerei, Schultes Arbeitgeber. Weil er keinen Schlüssel besaß, mussten die Kartons mit den Heften schon mal nachts über die Zäune gehievt werden. Später kauften sie den Drucker. Seitdem wird bei Schulte im Keller produziert, wo eigentlich ein Partyraum entstehen sollte. Die Kabel hängen heute noch aus der Wand. Zwei lange Abende braucht es für eine Ausgabe. Schulte hat seiner Frau das Versprechen abgenommen, dass auch nach seinem Tod dort gedruckt wird.
Früh machten sie sich mit einer Umfrage über das Schützenwesen unbeliebt, bei dem dieses ziemlich schlecht wegkam. Auch nicht gut kam an, dass sie Zuschauer kritisierten, die sich das Fußballspiel der ersten Mannschaft nur ansahen, um sich zu besaufen. Die Zeitung trug aber auch dazu bei, dass in Dedinghausen weder eine Hochmülldeponie noch ein Kernkraftwerk gebaut wurde. Sagen jedenfalls die Redakteure. Es gab aber auch den Fall, als sie aus Rücksicht auf die Gesundheit eines umstrittenen Dorfbewohners fortan zurückhaltend über ihn berichteten. Am Ende des Tages würden sie doch lieber auf eine gute Story verzichten als auf einen guten Nachbarn.
Wer zum ersten Mal durch die Ausgaben blättert, gewinnt schnell ein Gefühl dafür, dass das Kleine, der Alltag wichtig sind, auch wenn es schon ein Dorf weiter niemanden mehr interessiert. Wer sonst sollte hier Öffentlichkeit herstellen? Die eigentliche Lokalzeitung hat für eine ausführliche Berichterstattung weder den Platz noch die Mitarbeiter. Es wird vermeldet, wenn Gullideckel in Vorgärten geworfen werden. An der Pinnwand im Heft steht: “Herzlichen Dank für die Anteilnahme beim letzten Gang meines Mannes.” Oder dass ein Hörgerät gefunden wurde. Die Ehrenamtler sind nicht an erster Stelle Journalisten, sondern Dedinghauser.
Die Einwohner wissen, was sie an ihrer Dorfzeitung haben. Einige Vereine haben sich sogar in die Satzung geschrieben, dass sie ihre Mitglieder über die Zeitung einladen. Gerade hat sich die Redaktion den vierten Drucker ihrer Geschichte angeschafft. Die Vereine gaben Kredite und haben sie bis heute nicht zurückverlangt. Die Zeitung hilft dem Dorf, und das Dorf hilft der Zeitung. Das Heft wird jedem Haushalt kostenlos zugestellt. Die Kosten werden nicht etwa über Anzeigen reingeholt – davon haben sie in 50 Jahren noch keine abgedruckt – sondern über Spenden. Knapp 10.000 Euro kommen im Jahr zusammen.
Vermutlich ist Dedinghausen nicht interessanter als die Nachbardörfer, aber es hat eine Zeitung, die berichtet. “Viele Leute halten Dedinghausen für ein besonders aktives Dorf. Das war vielleicht mal so”, sagt Wellner. Dank Zeitung wirkt es zumindest mal so. Den Bewohnern zeigt jede Ausgabe: Ihr habt’s doch gut hier. Dem Rest der Welt: Schaut mal her. Das Blatt trägt bei zur Identität eines eher mittelschönen Dorfes mit Bäckerei, Pizzeria, Grundschule bei, das von diversen Neubaugebieten dominiert wird. Drei Jahre nach Gründung der Zeitung verlor das Dorf seine Eigenständigkeit und wurde eingemeindet. Da kam ein Blatt gerade recht, das Monat für Monat ausschließlich über Dedinghausen berichtete. Einige Fortgezogene lassen sich die Zeitung nach Berlin oder Hamburg schicken. Ein Stück Heimat auf Papier. Und noch etwas anderes hätten sie festgestellt, sagt Wellner: “Bevor man hier irgendwo hingeht, überlegt man sich das dreimal.” Aber wenn die Zeitung über ein Konzert berichte, mit Fotos, auf denen der Nachbar im Publikum zu sehen sei, denke man: “Ach guck mal, dann gehe ich das nächste Mal auch.” Die Berichterstattung senkt die Hemmschwelle und trägt dazu bei, dass Dedinghausen kein Dorf wird, in dem man bloß schläft, isst und Netflix guckt. Sie haben hier nicht nur ein besonderes Geschäftsmodell für eine Zeitung gefunden, sondern auch ein Modell, um ein Dorf immer wieder zusammenzubringen, und sei es nur, weil einmal im Monat alle das gleiche Heft lesen. Schon in die Baustelle legen sie den Leuten ein Exemplar.
Zurück in der Dorfgaststätte beim Zusammenlegen. Redakteur Christian Sellmann tackert die letzten der 800 Hefte zusammen. Danach werden die Zeitungen an die Verteiler geliefert. Morgen wird schon fast jeder Haushalt ein Exemplar im Briefkasten haben. Auf der Titelseite die Gratulation an den Frisörsalon. Im Heft Berichte vom Herbströdel, dem Bundesjungschützenfest in Hüsten, dem Abschied von einer Kindergärtnerin, eine Einladung zum Lichterbaum einschalten, Ergebnisse der Vereinsmeisterschaften im Badminton, am Ende der Terminkalender für November, in dem man auch erfährt, wann welche Mülltonne raus muss. Sellmann stellt sich mit den anderen an die Theke. Manchmal dauert der Umtrunk danach bis vier Uhr in der Früh. Sellmann, 36, Informatiker, kümmert sich um die Webseite. Die Leute seien “gallig auf das Wochenende”, weil die Zeitung komme. Er gerät in eine Diskussion mit Willi Schulte und Wellner über die Pläne für den alten Sportplatz.
Sie sind gegensätzlicher Meinung, aber man hat nie das Gefühl, dass sie sich gleich an die Gurgel gehen. Wellner war Sellmanns Politiklehrer an der Berufsschule.
Der Zusammenhalt ist da, aber auch die Redaktion von “Dedinghausen aktuell” muss allmählich an die Zukunft denken. Internetauftritt und Instagram-Kanal haben sie längst, aber das Fortleben der Dorfzeitung hängt von anderen Dingen ab: Finden sich noch genug Menschen, die für die Zeitung arbeiten wollen, und genug Menschen, die für die Zeitung spenden? Momentan ist die Existenz nicht gefährdet. Das hat auch damit zu tun, dass Wellner und Schulte als Rentner viel Zeit aufbringen können. Wellner schätzt, dass er auf knapp 80 Stunden pro Monat kommt. Ein Großteil davon geht dafür drauf, die nächste Ausgabe in Word zusammenzupuzzeln. Dass das nicht besonders elegant aussieht, weiß er. “Mit 70 Jahren noch mal umzudenken, darauf habe ich keinen Bock.” Immer wieder holen sie schon Kinder in ihre Jugendredaktion, in der Hoffnung, dass ein paar von ihnen als Erwachsene weitermachen. Bei Jannik ist das trotz Studium in München gelungen.
Wellner hat an diesem Freitagabend in der Dorfkneipe andere Sorgen. Hunger. Heute beim 50. Jubiläum des Frisörs gab es tatsächlich keine Würstchen. “Nur so kleine Dinger.” Zum Glück feiert Redakteurin Britta heute Geburtstag. Die Truppe bricht auf. Denn eigentlich sind sie an erster Stelle auch keine Dedinghauser, sondern einfach Freunde.
Bilder © Victoria Jung
Text Sebastian Dalkowski
Erschienen im stern
Video: J.Kunau
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